Zeitschrift

Die sechziger Jahre

in der Bundesrepublik Deutschland

 

Baustein C

Zwischen Adenauer und Brandt


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Inhaltsverzeichnis

 

Große Koalition im Widerstreit der Meinungen

Das Zusammengehen der beiden Volksparteien, die sich seit 1949 als Regierung und Opposition gegenüberstanden und heftig bekämpften, wurde von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger in seiner Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 als "Markstein der deutschen Geschichte" bezeichnet. Große Hoffnungen, aber auch massive Kritik begleiteten die Begründung des Regierungsbündnisses, bei dem die SPD zum ersten Mal seit 1930 wieder Regierungsverantwortung übernahm.

Obwohl eine große Koalition auch in anderen Phasen der deutschen Nachkriegsgeschichte rechnerisch möglich gewesen wäre, kam es auf Bundesebene (im Gegensatz zu den Ländern) bisher nur einmal - nämlich 1966 bis 1969 - zur Bildung einer solchen Regierung. Große Koalitionen auf Bundesebene scheiterten zum einen an den deutlichen programmatischen Unterschieden zwischen den beiden großen Parteien, andererseits aber auch an verfassungsrechtlichen Bedenken: an der Sorge, dass es für die Demokratie gefährlich sein könnte, wenn die parlamentarische Opposition zu schwach ist. Tatsächlich standen 1966 bis 1969 der SPD mit zusammen 447 Abgeordneten nur 49 Abgeordnete der FDP als eine kleine Opposition gegenüber.

Die unterrichtliche Beschäftigung mit der Großen Koalition lohnt sich wegen der großen Bedeutung dieses Bündnisses für die sechziger Jahre. Zusätzlich kann dabei eine Analyse des demokratischen Verfassungssystems der Bundesrepublik Deutschland erfolgen, in dem das Recht auf Opposition und die Notwendigkeit einer effizienten Regierungskontrolle unabdingbar verankert sind. der Baustein C ist daher so konzipiert, dass mittels der hier angebotenen Materialien nicht nur die Tätigkeit der Regierung Kiesinger/Brandt, sondern auch die innenpolitische Konstellation in Deutschland während der sechziger Jahre untersucht werden kann.


Die Konjunktur- und Haushaltskrise 1966/67

Ausgerechnet als der "Vater des Wirtschaftswunders", Ludwig Erhard Kanzler war, erlebte die Bundesrepublik ihre erste sogenannte Wirtschaftskrise. Die Bundesbürger hatten sich in den fünfziger Jahren so an ständig steigende Wachstumsraten und Löhne, an Vollbeschäftigung und kürzere Arbeitszeiten gewöhnt, dass schon eine Verlangsamung des Wirtschaftswunders irritierte und eine wirtschaftliche Rezession eine psychologisch geradezu niederschmetternde Wirkung hatte....

Die Steigerungsrate des Bruttosozialprodukts sank 1966 auf 2,8 Prozent. 1967 gab es erstmals in der deutschen Nachkriegsgeschichte gar kein Wirtschaftswachstum, im Gegenteil: Das Bruttosozialprodukt fiel um 0,2 Prozent. Die Arbeitslosenquote stieg von 1966 0,7 Prozent auf 1967 2,2 Prozent. Die Ursachen dieser Krise ... lagen im Rückgang privater und öffentlicher Investitionen ... Um die sich abzeichnende Inflationsgefahr abzuwehren, erhöhte die Bundesbank am 13. August 1965 den Diskontsatz von 3,5 Prozent auf vier Prozent und am 27. Mai 1966 auf fünf Prozent. Diese Entscheidung verteuerte Kredite und verringerte die ohnehin geringe Neigung zu Investitionen ...

Um die Finanzierungslücken des Bundeshaushalts zu schließen, verabschiedete das Bundeskabinett am 29. Oktober 1965 ein drastisches Sparprogramm. Die Regierung verfolgte also eine prozyklische, die Wirtschaftskrise verschärfende Politik... Bundeskanzler Erhard lehnte es nach wie vor ab, lenkend in den Wirtschaftsprozess einzugreifen. Er beschränkte sich auf Appelle an Produzenten, Konsumenten und Lohnempfänger, in ihren Forderungen und Ansprüchen Maß zu halten und mehr zu arbeiten.

Peter Borowsky in: Informationen zur politischen Bildung 258, Bonn 1998, S. 9 f.


1 Henry Turner: Geschichte der beiden deutschen Staaten, München/Zürich (Piper) 1989, S. 103.

Zur Anlage des Bausteins

Die Karikaturenseite (C 1) ermöglicht einen ersten Überblick über die raschen Regierungswechsel während der sechziger Jahre.

Die Umfrage des Allensbacher Instituts (C 2) zeigt das enorme Ansehen Konrad Adenauers während des ganzen Jahrzehnts und den Prestigeverlust seines Nachfolgers. Das Abbröckeln der Zustimmung zu Ludwig Erhard, der lange Zeit als Wahlzugpferd der CDU gegolten hatte, kann man aus den Ergebnissen der Bundestagswahlen ablesen und mit der Verschlechterung der Wirtschaftsdaten begründen (C 3 bis C 5). "Ironischerweise war Erhard, der Architekt des Wirtschaftswunders, ausgerechnet daran gescheitert, dass es ihm nicht gelang, die Probleme, die eine Rezession mit sich brachte, in den Griff zu bekommen." 1

Die folgenden Materialien liefern die Grundlagen für eine Beurteilung der Großen Koalition (C 6 bis C 9).

Anhand der in C 10 wiedergegebenen Plakate können die Schülerinnen und Schüler den Wandel der politischen Einstellungen, der auch in der Wahlwerbung zum Ausdruck kam, erarbeiten: Während man 1961 auf die Bewahrung des Bestehenden und Erreichten setzte, deuten die Plakate zur Bundestagswahl 1969 auf Veränderung und Reformbereitschaft hin; hier findet das während der sechziger Jahre entstandene Reformpotential seinen Niederschlag.

Für eine vertiefende Auseinandersetzung wurde die Notstandsgesetzgebung (C 11 bis C 13) ausgewählt. Angesichts der auch heute aktuellen Zunahme rechtsextremistischer Gruppierungen und Parteien in der Bundesrepublik Deutschland ist es zweckmäßig, dass sich Jugendliche auch mit der Geschichte dieser Tendenzen beschäftigen. Deshalb wird um die NPD-Erfolge in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre ein weiterer Schwerpunkt gebildet (C 14, C 15).

Unterrichtspraktische Hinweise

Die übergeordnete Problemstellung lautet: Sollen große Koalitionen gebildet werden, auch wenn dies zu Lasten einer starken und durchsetzungsfähigen Opposition im Parlament geht?

Diese Frage kann man auf die historische Situation in der Mitte der sechziger Jahre zuspitzen: War die Große Koalition 1966 bis 1969 notwendig?

In beiden Fällen handelt es sich um Fragen, die auch in der fachwissenschaftlichen Literatur kontrovers beantwortet werden. Für arbeitsteiligen Gruppenunterricht eignen sich die Karikaturen (C 1), wobei jeder Gruppe eine oder zwei Karikaturen zur Auswertung vorgelegt werden, und die Wahlplakate (C 10), hier vergleichen die Schüler je ein Plakat aus 1961 mit einem Plakat aus 1969.

Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Notstandsgesetzgebung wird empfohlen - zusätzlich zu den Materialien C 11 bis C 13 - einige damals geänderte Artikel des Grundgesetzes mit der Lerngruppe zu lesen und das Ausmaß der Einschränkungen zu diskutieren. Folgende Artikel bieten sich dafür an: 53a, 115a bis 115l, 80a, 12a, 9. Absatz 3 (ergänzt), 87. Absatz 4 (ergänzt), 91. Absatz 2 (ergänzt), 20. Absatz 4 (neu).

Mögliche Aufgaben

C 1: Erläutern Sie die Aussage der einzelnen Karikaturen, und beschreiben Sie den Wandel der innenpolitischen Konstellation in Westdeutschland zwischen 1961 und 1969.

C 2 bis C 5: Stellen Sie die Ursachen für den Autoritätsverlust der Regierung Erhard zusammen, und gewichten Sie die von Ihnen gefundenen Aspekte. Beschreiben Sie die Rolle der FDP auf dem Weg zur Großen Koalition (1961 bis 1966).

C 6 bis C 9: Sammeln und diskutieren Sie Argumente für und gegen die Bildung der Großen Koalition im Jahre 1966.

C 10: Erarbeiten Sie die Unterschiede zwischen den Aussagen sowie der Gestaltung der Wahlplakate 1961 und 1969. Begründen Sie diesen Wandel.

C 11 bis C 13: Stellen Sie wesentliche Argumente der Gegner der Notstandsgesetzgebung zusammen. Erörtern Sie die These, dass die Kritik an der Notstandsgesetzgebung realitätsfern und überzogen gewesen sei.

C 14 bis C 16: Nennen Sie mögliche Gründe für das Aufkommen der NPD und ihre Wahlerfolge seit der Mitte der sechziger Jahre. Die Erfolge der NPD wurden in den Jahren 1967 bis 1969 als Bedrohung des demokratischen Systems angesehen. Nehmen Sie dazu Stellung.


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