Zeitschrift

Die sechziger Jahre

in der Bundesrepublik Deutschland

 

Baustein A

Ein Jahrzehnt des Wandels


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Inhaltsverzeichnis

 

Aufbruchstimmung und Gegenströmungen

Im Mittelpunkt diese Bausteins stehen der Wertewandel und die Veränderungen der sozialkulturellen Befindlichkeit der Deutschen während der sechziger Jahre. Der Boden für den Optimismus und das nahezu grenzenlose Technik- und Zukunftsvertrauen wurde bereits in den fünfziger Jahren gelegt. Die sechziger Jahre bringen Neuanfang und Fortsetzung zugleich! (vgl. S. 5) Experimentierfreude und Aufbruchstimmung stehen neben Bewahrung und Festhalten an den Errungenschaften der fünfziger Jahre.

Bemerkenswert ist auch das Nebeneinander von Toleranz gegenüber friedlichen Reformansätzen und den negativen Reaktionen auf schockartige Herausforderungen: Neben den "braven" Beatles, die bahnbrechend für neue Musik und Mode wurden, stehen die Rolling Stones, deren Auftritte eher als Störung empfunden wurden. Harmlose, aber doch die vorherrschenden Moralvorstellungen herausfordernde Filme wie "Zur Sache, Schätzchen" (1968) finden breiten Zuspruch; dagegen provoziert Ingmar Bergmans "Das Schweigen" (1964) heftige Proteste in der Öffentlichkeit. Während Popmusik als Ausdruck von Jugendlichkeit toleriert wird, lehnt die Mehrheit der Bevölkerung die provokative Infragestellung der bürgerlichen Lebensformen durch einen Teil der studentischen Jugend rigoros ab.

Der Luxus der fünfziger Jahre war eher bescheiden, wurde aber dennoch stolz präsentiert, er war Ausdruck des wiedergewonnenen Selbstbewusstseins. Die sechziger Jahre gingen weiter: Mode wird zum politisch-gesellschaftlichen Programm, sei es der Hosenanzug oder der Minirock, welche die Emanzipationsbewegung einleiteten oder das Haschisch-Rauchen und der Mao-Look der APO-Studenten, welche die Verständigung zwischen den Generationen aufkündigten.

Mit Recht wurden die sechziger Jahre als das "politischste Jahrzehnt" in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet, weil in diesem Zeitraum ein überaus heftiger Streit über die Gestaltung der Gesellschaft und der zukünftigen politischen Ordnung ausgetragen wurde. Auch der für die Bundesrepublik einmalige rasche Wechsel von Regierungen gehört hierher: Auf die CDU/CSU-Regierung folgte 1961 die Koalition aus CDU/CSU und FDP, zunächst unter Adenauer, seit 1963 unter Erhard; darauf kam es zur Bildung der Großen Koalition (1966-1969) und schließlich 1969 zur sozialliberalen Koalition. Der Mauerbau in Berlin führte zur Neuorientierung der Deutschland- und Ostpolitik. Konjunktureinbruch, Große Koalition und Notstandsgesetzgebung waren ausschlaggebend für das Anwachsen der Außerparlamentarischen Opposition und für die Erfolge der NPD.


Ideal und Wirklichkeit (1964)

Deutsche Väter sehen es nicht gern, wenn ihre Frauen arbeiten. Das ist das erstaunliche Ergebnis einer repräsentativen Erhebung des Deutschen Vereins, Frankfurt ... Erstaunlich, weil in der Bundesrepublik von den Müttern mit Kindern unter 14 Jahren ... mehr als ein Drittel erwerbstätig sind. Jede vierte Frau in der Bundesrepublik, die einem Beruf nachgeht, ist demnach eine Mutter mit schulpflichtigen oder kleineren Kindern. Die Mütter neigen also stärker zur Berufstätigkeit, als die Väter es wünschen ...

Die Idealvorstellungen der deutschen Väter hinken hinter den realen Gegebenheiten weit hinterher ... Von 1000 Ehemännern verlangen 300 von ihrer Ehefrau in erster Linie gute Haushalts- und Kochkenntnisse. ... Die übrigen betonen den sparsamen, haushälterischen und praktischen Sinn der Frau, loben die Arbeitsfreudigkeit und den Fleiß. Ein großer Teil der befragten Männer ... wendet sich sogar ... gegen Mütter, die gern ins Kino oder zum Friseur gehen oder gar Zigaretten rauchen. Nur 1 Prozent wünscht sich eine Frau, die einen Beruf ausübt ... Dies alles in einer Zeit, in der die Wirtschaft auf jede, auch auf jede weibliche Arbeitskraft angewiesen ist, in der die verschiedensten Überlegungen angestellt werden, wie man der Mutter neben ihren Familienpflichten eine Berufsarbeit ermöglichen kann.

Der Arbeitgeber 1964, Nr. 18, S. 452


Zur Anlage des Bausteins

Die Absicht dieses Bausteins ist es, die Schülerinnen und Schüler zur Auseinandersetzung mit dem besonderen Charakter der sechziger Jahre zu motivieren; dies soll vor allem dadurch geschehen, dass möglichst viele unterschiedliche und überraschende Phänomene des gewählten Zeitraums vorgestellt werden. Dabei muss den Adressaten der einführende Charakter des Materialarrangements bewusst sein; eine vorschnelle und verfrühte Urteilsbildung kann so vermieden werden. Es geht in dieser Phase des Unterrichts hauptsächlich darum, die Vielschichtigkeit des Veränderungspotentials aufzuzeigen. Dazu kann man vor allem die Bilderreihen heranziehen (A 1, A 2, A 9, A 11, A 13 und A 16) und gewichten. Von besonderer Bedeutung ist in dieser Einleitungsphase auch die katalogartige Zusammenstellung der Denkwürdigkeiten und Merkwürdigkeiten (A 7). Mit ihr sollte man versuchen, die verschiedenen Ebenen ins Blickfeld zu rücken, auf denen politische und gesellschaftliche Veränderungen stattfanden. Die Mischung aus Phänomenen und Ereignissen weckt Interesse am Weiterlesen und regt zum Systematisieren an. Zitate (A 3), eher theoretische Überlegungen (A 4 und A 5) und Befragungsergebnisse (A 8) runden die einführende Übersicht ab.

Die Bereiche Musik (A 9 bis A 12) und Mode (A 13 und A 14) sind für die Schülerinnen und Schüler eher zugänglich als Äußerungen der bildenden Kunst, Architektur und politische Theorien; letztere bleiben daher in diesem Baustein fast ganz unberücksichtigt.

Der durch den Baustein A gewonnene Überblick ermöglicht später die Zuordnung und Einbindung der Informationen der folgenden Bausteine. Zusätzlich wird der Zugriff zu den dort vermittelten Einzelheiten für die Schülerinnen und Schüler erleichtert, weil sie bereits die Hauptlinien der sechziger Jahre in einer Art Strukturgitter erfasst haben. Die Materialien entsprechen weitgehend dem Anforderungsniveau der Mittelstufe; die Dokumente A 3 bis A 5 können der Oberstufe vorbehalten bleiben.

Schaubild 1: Aufbruch und Bewahrung

Die sechziger Jahre: DAS NEUE

Widerstände

Festhalten an der Forderung nach Wiedervereinigung

Nichtanerkennung der DDR

"Macht-das-Tor-auf"-Bewegung

"Keine Experimente"

Demonstrationen und Proteste gegen die Große Koalition und die Notstandsgesetze

Wahlerfolge der NPD

POLITISCHE VERÄNDERUNGEN

Weltpolitik:

Übergang von der Konfrontation zur Entspannungs- und Koexistenzpolitik

Vertragspolitik: Rüstungsbegrenzung und Abrüstung

John F. Kennedy (USA): "New Frontiers"

Deutsche Innenpolitik:

Bau der Berliner Mauer

"Neue Ostpolitik": Lösung von der "Hallstein-Doktrin"

Schrittweise Akzeptanz der Teilung Deutschlands

Koalitionswechsel: Große Koalition (1966-1969) Sozialliberale Koalition (seit 1969)

Wahl Gustav Heinemanns (SPD) zum Bundespräsidenten

GESELLSCHAFTLICHER WANDEL

Infragestellung und Abbau traditioneller Bindungen und Autoritäten

Veränderungsbereitschaft

Grenzenloser Fortschrittsglaube

Experimentierfreudigkeit

Beginn der Emanzipationsbewegung

Jugendproteste (verschärfter Generationenkonflikt)

Neue Musik (z.B. Beatles)

Neue Mode (z.B. Minirock, Mao-Look)

Durchsetzung neuer Lebensformen (z.B. Wohngemeinschaften)

Studentenbewegung: Forderung nach einer neuen politischen und Gesellschaftsordnung

Widerstände

Verteidigung der traditionellen Hierarchien

Forderung der Arbeiterschaft und der älteren Generation nach Besitzstandswahrung

Verteidigung der Familienstruktur

Ablehnung der Emanzipation der Frau

Ablehnung der neuen Mode (z.B. Bikini, lange Haare)

Massive Bekämpfung der Studentenrevolte

MODERNISIERUNG VON STAAT UND GESELLSCHAFT

Die fünfziger Jahre: DAS FUNDAMENT

Westintegration der Bundesrepublik Deutschland: Montanunion (1951) / EWG (1957) NATO (1955)

Akzeptanz und Stabilisierung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung

"Wirtschaftswunder": Konjunkturaufschwung, Vollbeschäftigung, Exportboom

Steigerung des Lebensstandards, Soziale Marktwirtschaft

Sozialpolitische Errungenschaften: z.B. Betriebsverfassungsgesetz, Jugendarbeitsschutz, Dynamische Rente

 

Unterrichtspraktische Hinweise

Es wird empfohlen, dass sich die Klasse zunächst einen Überblick über die behandelte Zeit verschafft (A 1, A 2, A 7).

Zur Strukturierung dient die Leitfrage: Was ist das Wesentliche und Besondere an den sechziger Jahren?

Die Lehrerin oder der Lehrer kann mehrere Projektmöglichkeiten vorstellen und die Klasse selbst die endgültige Entscheidung treffen lassen. Für die Gruppenarbeit wird folgende Aufteilung empfohlen:

Gruppe A: Musik

Gruppe B: Mode

Gruppe C: Besondere Ereignisse (A 7)

Das Einspielen einiger Lieder der Beatles und der Rolling Stones sowie von Schlagern der sechziger Jahre hat sich als motivationsfördernd erwiesen.

Auch an die Präsentation von Ausschnitten aus dem Hippie-Musical "Hair" auf Tonträgern ist hier zu denken. Eine fächerverbindende Unterrichtsphase (Geschichte und Musik) stellt eine lohnende Erweiterung des Unterrichtsvorhabens dar.

Mögliche Aufgaben

  • Erarbeiten Sie Ihnen wesentlich erscheinende Merkmale der sechziger Jahre (A 1 bis A 8)
  • Erörtern Sie, inwiefern man von einem "Jahrzehnt des Wandels und der Veränderung" sprechen kann (A 7).
  • Ordnen Sie die erwähnten Ereignisse nach folgenden Gesichtspunkten: a) große Politik, b) westdeutsche Innenpolitik, c) gesellschaftlicher Wandel, d) Erfindungen und Errungenschaften der sechziger Jahre.
  • Wählen Sie Ereignisse aus, die Ihnen eher wichtig, und solche, die Ihnen eher nebensächlich erscheinen. Begründen Sie jeweils Ihre Entscheidung.
  • Fassen Sie die Veränderungen, die während der sechziger Jahre erfolgt sind, in eigenen Worten zusammen.
  • Nennen Sie mögliche Gründe für den spektakulären Erfolg der Beatles. Vergleichen Sie die Musik der Beatles mit der der Rolling Stones und mit den Schlagern der sechziger Jahre (A 9 bis A 12).
  • Warum kann man von völlig neuen Modeschöpfungen der sechziger Jahre sprechen? Ordnen Sie diese Mode dem Lebensgefühl und den Einstellungen der sechziger Jahre zu (A 13 bis A 16).

Christian de Nuys-Henkelmann: Die Hippies

Die ... aus den USA kommende Mode der Hippie-Subkultur mit ihrer Propagierung des Ausstiegs aus der Industriegesellschaft und der Rückkehr zur Natur und zum natürlichen (Liebes-) Verhalten (setzt) einen ersten gesellschaftlichen Akzent. Die Hippies sind auf der Suche nach einem dritten Weg, wie der Einfluss des Orients zeigt, der sich musikalisch, modisch und philosophisch niederschlägt in Sitarklängen, wallenden Gewändern, bewußtseinserweiternden Drogen und Meditationsphantasien. Ende der sechziger Jahre gefallen sich männliche Hippies und solche, die dazugehören wollen, in geblümten Kaftan-Anzügen, geschmückt mit fernöstlicher Bettelmönchkutte oder glitzernden Kreuzanhängern sowie in hohen Plateausohlenschuhen. Blue jeans werden zum androgynen Bekleidungsstück schlechthin. Man will nicht Konkurrenz der Geschlechter, sondern Verständnis und Liebe ("Make love, not war!")

Zit. nach Hilmar Hoffmann/ Heinrich Klotz (1987), S. 33


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