Zeitschrift Die sechziger Jahre in der Bundesrepublik Deutschland
Einleitung |
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In den sechziger Jahren hat die Gesellschaft in Westdeutschland einen tiefgreifenden Wandel durchlaufen, der Einstellungen, Lebensgefühl und Wertesystem nachhaltig verändert hat. Der thematisierte Zeitabschnitt hat zwar Auswirkungen bis in unsere Gegenwart hinein, bildet aber andererseits doch eine abgeschlossene Einheit, die sich grundsätzlich vom Heute unterscheidet; sie ist Geschichte - zumal für unsere Schülerinnen und Schüler. Gerade bei der Beschäftigung mit der Andersartigkeit einer nur wenig zurückliegenden Zeit lassen sich wichtige Impulse für die eigene Standortbestimmung gewinnen, die man im Unterricht produktiv aufgreifen kann. Zunächst stellt sich die Aufgabe, die spezifischen Merkmale und Besonderheiten, die Signatur der sechziger Jahre zu definieren. Auch für den Unterricht eröffnet diese Frage überraschende und weiterführende Möglichkeiten. Trotz unumgänglicher "Übergriffe" in den vorausgehenden und den nachfolgenden Zehnjahreszeitraum lassen sich Anfang und Ende der sechziger Jahre durch tiefe Einschnitte markieren. Der Beginn
Das Ende Auch für das Ende der sechziger Jahre lassen sich markante Daten anführen:
1 "In ohnmächtiger Empörung forderte der Berliner Bürgermeister Willy Brandt im Herbst 1961 vor dem Bundestag das Eingreifen der UNO und Repressionen gegen die DDR und Moskau ... Brandt erhielt donnernden Beifall, aber die Mauer wurde nicht durchlässiger" (Heinrich Jaenecke, 1979, S. 302)
Ein Jahrzehnt des Aufbruchs In keiner Phase der Nachkriegsgeschichte war die Bereitschaft zu Veränderungen und zur Abkehr vom Althergebrachten größer als in den sechziger Jahren. Der Wind des Aufbruchs und des Neuanfangs wehte damals durch Westdeutschland (und darüber hinaus durch die ganze westliche Welt). Das Vertrauen auf die Veränderbarkeit und Machbarkeit der Gesellschaft war nahezu grenzenlos. Traditionelle Bindungen und gesellschaftliche Zwänge, die sich während der fünfziger Jahre eher verfestigt hatten, wurden rigoros in Frage gestellt. Der Abbau von "überholten" Autoritäten wurde zum Programm weiter Bevölkerungskreise. Man gab sich vorbehaltlos und mit großem Optimismus der Hoffnung auf eine "bessere Welt" hin. Nahezu alles schien machbar und beherrschbar; sogar der Weltraum rückte nach - bemannten und unbemannten - Erdumkreisungen und Mondlandungen näher als jemals zuvor. Zu Recht hat man die sechziger Jahre als "eine Zeit der Träume und der Illusionen" bezeichnet. Das Festhalten an der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, der von den Studenten gepflegte "Traum von der Revolution", aber auch die Aufforderung Willy Brandts in seiner ersten Regierungserklärung "Mehr Demokratie wagen!" beleuchten exemplarisch die überschwängliche Einschätzung des politisch und gesellschaftlich Möglichen. Ausgangspunkt und Vorbild für diese optimistischen Weltverbesserungspläne waren die USA - in dreifacher Hinsicht:
Eine wesentliche Fundierung der Zukunftsgläubigkeit war das ungebrochene Vertrauen in den wirtschaftlichen Fortschritt, das zwar in Deutschland infolge der Konjunkturkrise in den Jahren 1966 und 1967 kurzfristig einen Dämpfer erfuhr, aber nach dem Wiederanspringen des Konjunkturmotors während der Großen Koalition rasch wieder auflebte. Deutschland lebte nach dem Motto "höher, schneller, toller, teurer"; Verkehr, Konsum, Wohnungsbau und Tourismus erfuhren einen phänomenalen Aufschwung. Es ist ein wichtiges Ziel der Unterrichtsmaterialien, den Schülerinnen und Schülern neben den historischen Ereignissen der sechziger Jahre gerade auch diese mentalen Veränderungen in der deutschen Bevölkerung bewusst zu machen und sie zu einer eigenen Bewertung anzuregen; dabei ist der Rückblick auf diese Umbruchzeit sowohl von kritikloser Bewunderung als auch von Überheblichkeit freizuhalten. Denn viele der damals aufgeworfenen Fragen, viele Probleme und Lösungsansätze der sechziger Jahre wirken bis heute weiter - freilich in modifizierter Form; andere Phänomene, die, aus zeitlicher Distanz betrachtet, eher merkwürdig wirken, sind aus ihrem historischen Umfeld heraus verständlich zu machen. Nachdrücklich ist davor zu warnen, den während der sechziger Jahre vollzogenen gesellschaftlichen Wandel einseitig der Studentenbewegung zuzurechnen und so deren Bedeutung im Ensemble der Veränderungsprozesse und ihrer Akteure zu überschätzen; die Ereignisse von 1968 sind nur ein Aspekt des Umbruchs - wenngleich sicher der spektakulärste. Man wird daher die Aufbruchstimmung nicht ausschließlich an den Ereignissen der ausgehenden sechziger Jahre, sondern auch an anderen Phänomenen aufzeigen - insbesondere an der Musik, der Mode, dem Film und anderen kulturellen Neuerungen. Gegenkräfte Die Beschreibung der sechziger Jahre bliebe freilich einseitig und unvollständig, wollte man diesen Zeitraum ausschließlich als eine Phase des Umbruchs charakterisieren: Der Wille zu radikaler Veränderung stieß auf starke Kräfte der Bewahrung und der beharrlichen Verteidigung des Überkommenen. Besonders die Arbeiterschaft und die ältere Generation zeigten wenig Interesse an der Infragestellung des Bestehenden; die Parolen der Studenten prallten an ihnen ab und riefen Unwillen hervor. Die aufgrund der Sozialpolitik errungenen Standards und Lebensbedingungen waren so positiv, und das Vertrauen auf eine schrittweise weitere Verbesserung der ökonomischen Rahmenbedingungen war inzwischen so tief verwurzelt, dass man keineswegs eine revolutionäre Umwälzung anstrebte. Adenauers Schlagwort "Keine Experimente" (1957) behielt in weiten Kreisen der Bevölkerung - mindestens bis zum letzten Viertel der sechziger Jahre - seine Anziehungskraft.Auch gesetzgeberische Ansätze zur Veränderung der Innen- und Außenpolitik stießen auf heftige Widerstände und kamen nur schrittweise voran. Diese Ambivalenz von Reformbereitschaft und retardierenden Momenten gehört unabdingbar zur Signatur der sechziger Jahre. Am Beispiel der sechziger Jahre kann man dafür sensibilisieren, dass Reformansätze und gesellschaftliche wie politische Veränderungen in aller Regel auf Widerstände oder Vorbehalte treffen, die zu Kompromissen zwingen, wenn der innere Friede nicht empfindlich gestört werden soll. Zum Forschungsstand An dieser Stelle ist ein Hinweis auf neuere Forschungsergebnisse zur Modernisierung in Westdeutschland erforderlich: In mehreren fachwissenschaftlichen Darstellungen wird betont, dass bereits in den fünfziger Jahren die wichtigsten gesellschaftlichen und ökonomischen Umbrüche stattgefunden hätten und die eigentliche Zäsur deshalb in diesem Zeitraum historisch zu verorten sei. Das wichtigste Ergebnis des gesellschaftlichen Wandlungsprozesses, der sich bereits in den fünfziger Jahren abspielte, ist die kulturelle und geistige, aber auch die politische und wirtschaftliche Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland nach Westeuropa. Diese Eingliederung brachte die endgültige Absage an einen "deutschen Sonderweg" und führte zu einer relativ reibungslosen Akzeptanz westeuropäischer Werthaltungen und Einstellungen bei der westdeutschen Bevölkerung.2 Die seit der Währungsreform (1948) beginnende neue Orientierung schleppte freilich mancherlei unzeitgemäße Traditionen, insbesondere eine fragwürdige Autoritätshörigkeit in den Strukturen der Familie und der Bildungseinrichtungen mit sich fort.
2 ausführlich dazu: Hans-Peter Schwarz: Geschichtsschreibung und politisches Selbstverständnis; in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 36/82, S. 3-14. Hermann Glaser (1997) S. 307-312. Hans Maier: Die Deutschen und die Freiheit, Stuttgart 1985, S. 19. Axel Schildt: Moderne, Hamburg 1995, S. 416-425. Hellmuth Karasek: "Go West!" Eine Biographie der fünfziger Jahre, Hamburg 1996 Auch die Fixierung der deutschen Außenpolitik auf die Wiederherstellung der deutschen Einheit und das ungeklärte Verhältnis zur DDR versperrten eine Annäherung an die beginnende Politik der Entspannung und der Koexistenz. 1960 rief der Philosoph Karl Jaspers einen Sturm der Entrüstung hervor, als er die Deutschlandpolitik der Regierung Adenauer als illusionistisch geißelte und die Forderung nach einer Wiedervereinigung in den Grenzen von 1937 als verhängnisvoll verwarf.3 Unser Unterrichtsmodell berücksichtigt einerseits die Bedeutung der Vorgeschichte für die Entwicklung während der sechziger Jahre, weil in der Tat viele Phänomene ohne die Kenntnis der Veränderungen der Ära Adenauer unverständlich blieben; andererseits wird aber auch der "Gezeitenwechsel" zwischen den fünfziger und den sechziger Jahren betont und herausgearbeitet. Sowohl der politische Wandel als auch die mentalen Veränderungen während der sechziger Jahre behalten also trotz der Modernisierungen im vorausgegangenen Jahrzehnt ihre Bedeutung. Besonders hervorzuheben sind hier der Beginn einer "neuen Ostpolitik" als logische Ergänzung zur Westintegration der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 und die Protestbewegung in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre: "Die Modernitätskultur der fünfziger Jahre wie die Protestbewegung der späten sechziger Jahre waren die zwei Seiten einer Medaille ... Beide Strömungen (sorgten) dafür ..., dass der Bundesrepublik, trotz mancher Rückfälle, die Loslösung von der deutschen autoritären und totalitären Vergangenheit glückte." 4 Didaktische Überlegungen Ein bloßer Überblick über die sechziger Jahre wird weder der Komplexität der einzelnen Stationen und Probleme gerecht, noch bietet er die Voraussetzungen für einen attraktiven Unterricht. Die Aufgabe der Didaktik ist es, charakteristische Phänomene des zu beschreibenden Zeitraums zu identifizieren, an welchen die wichtigsten Merkmale und entscheidende Weichenstellungen der Jahre 1960 bis 1970 aufgezeigt werden können. Deshalb werden - exemplarisch - vier Stoffbereiche ausgewählt. Neben der Schülernähe und der Widerspiegelung besonders prägender Phänomene bestimmten folgende beiden Aspekte die Themenwahl für das vorliegende Heft:
Die notwendige Reduktion auf wenige Themenkreise mag willkürlich erscheinen, zumal dabei wichtige Aspekte, die für die sechziger Jahre ebenfalls von Bedeutung gewesen sind, ausgeklammert werden mussten. Manche Themenkreise werden zumindest in den Zeittafeln erwähnt.
3 Karl Jaspers: Freiheit und Wiedervereinigung, München (Piper) 1960, S. 34, 38, 74 u. S. 81 ff. 4 Hermann Glaser (1997), S. 312; vgl. Schaubild 1, S. 8
Ziele Die Schülerinnen und Schüler sollen
Zur Gestaltung des Unterrichts Bilder oder Karikaturen bieten am Anfang eines jeden Bausteins einen ersten Einblick in das jeweilige Thema. Sie sollen Fragestellungen anregen und dazu motivieren, sich mit den nachfolgenden Materialien zu beschäftigen. Zur Strukturierung der gesamten Unterrichtseinheit wird empfohlen, eine Form des handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts auszuwählen, durch welche die Arbeit mit den Materialien durchgängig profiliert und für die Schülerinnen und Schüler attraktiver wird. Folgende Möglichkeiten bieten sich an:
Gerhart Maier 5 Mitarbeiter der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg haben ein attraktives Feature zur 68er-Revolte entworfen. Interessenten wenden sich an Dr. Michael Wehner, Außenstelle der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Bertoldstr. 55, 79098 Freiburg. |
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