Zeitschrift

Die sechziger Jahre

in der Bundesrepublik Deutschland


Baustein B: B12 - B16
Folgen und Bewertungen


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Inhaltsverzeichnis

 

B 12 Erste Passierscheinregelung

Auszug aus dem Protokoll über eine zeitweilige Regelung für den Verwandtenbesuch von Westberlinern in Ostberlin vom 17. Dezember 1963

1. In der Zeit vom 19. Dezember 1963 bis zum 5. Januar 1964 können Einwohner von Berlin (West) mit einem Passierschein ihre Verwandten in Berlin (Ost) in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik besuchen.

2. Als Verwandtenbesuch gilt der Besuch von Eltern, Kindern, Großeltern, Enkeln, Geschwistern, Tanten und Onkeln, Nichten und Neffen sowie der Ehepartner dieses Personenkreises und der Besuch von Ehegatten untereinander.

3. Staatssekretär Wendt (DDR) erklärt, Voraussetzung für die Genehmigung von Besuchsanträgen sei, dass der Antragsteller nicht gegen die Gesetze der Deutschen Demokratischen Republik verstoßen hat. (D.h. z.B., dass der Antragsteller nicht aus der DDR geflohen ist. - Red.)

Peter Möbius/ Helmut Trotnow (Hg.): Mauern sind nicht für ewig gebaut. Zur Geschichte der Berliner Mauer, Berlin (Propyläen) 1990, S. 46.

B 13 Bewertung einer Zäsur

a) Rudolf Morsey: Mit dem 13. August 1961 war jedes nationalstaatliche Wiedervereinigungskonzept gescheitert, aber auch Chruschtschows Ziel, die Westmächte aus Berlin zu verdrängen. Für viele ... Deutsche hat der spektakuläre Mauerbau der DDR noch vorhandene Illusionen zerstört, die darin bestanden, die Sowjetunion nach erfolgter Westintegration der Bundesrepublik durch eine gemeinsame westliche "Politik der (nichtmilitärischen) Stärke" dazu bewegen zu können, der Bevölkerung in der DDR politisches Selbstbestimmungsrecht einzuräumen.

Die Bundesrepublik Deutschland (Oldenbourg) 1987, S. 61.

b) Gerwin Zohlen: Es gibt wohl kaum ein politisches Datum und ein ihm zugehöriges Bauwerk, das tiefer in Selbstverständnis und Selbstbegründung der bundesrepublikanischen wie der DDR-Gesellschaft eingegriffen hätte, als der Mauerbau 1961. Die Mauer manifestierte und zementierte die deutsche Teilung und das deutsche Problem in der internationalen Politik. Sie symbolisierte den Kalten Krieg.

Berliner Zeitung vom 5. November 1996, S. 28.

c) Peter Bender: Tatsächlich hat die Mauer den Staat der SED etwa zwei Jahrzehnte konsolidiert. Bevor sie stand, konnte jeder, dem es in der DDR unerträglich wurde, über Berlin entweichen; da es noch ein Schlupfloch in die äußere Freiheit gab, war die innere Freiheit leichter zu bewahren. Nach dem 13. August wurde die Lage buchstäblich auswegslos, die Regierung hatte unbeschränkte Macht über das Volk. Seitdem musste sich jeder darauf einstellen, sein gesamtes Leben in der DDR zuzubringen. Alle Ansprüche, die er hatte, alle Pläne, die er machte, alle Hoffnungen, die er hegte, konnten nur Wirklichkeit werden unter den Bedingungen der kommunistischen DDR.

Die zweite Gründung der DDR: Der Mauerbau; in: Eckhart Conze/ Gabriele Metzler (Hg.): Deutschland nach 1945, München (Beck) 1997, S. 93.

B 14 Folgen für die Ostpolitik

Die Einsicht in die begrenzte Tragweite der westlichen Garantien und in die Sonderstellung Berlins wurde zum politischen Wendepunkt für Willy Brandt und seine Berater. Von hier führt ein direkter Weg zur späteren Ostpolitik der sozialliberalen Koalition. Schon am 5. September 1961 deutete Brandt im Berliner Abgeordnetenhaus an, es gehe darum, unrealistische und unhaltbare Rechtspositionen des Westens in Berlin abzubauen. Zugleich ließ er die Bereitschaft erkennen, mit dem Osten über technische Kontakte zu sprechen, um das Los der Menschen in der geteilten Stadt zu erleichtern... Zwei Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer entwickelte sein Vertrauter Egon Bahr ... in Tutzing am 15. Juli 1963 zum ersten Mal öffentlich die Grundrisse einer Politik des "Wandels durch Annäherung".

Adolf Birke: Nation ohne Haus. Deutschland 1945-1961, Berlin (Siedler) 1974, S. 482 und 485.

B 15 Eine neue Tagesordnung

Abgesehen von ihren mörderischen und entmutigenden Auswirkungen schaffte die Mauer Klarheit. Ihr Bau stellte einen einseitigen Bruch des Berlin-Status dar, den die Westalliierten nicht hatten verhindern können, es sei denn um den möglichen Preis eines Krieges. Die Kuba-Krise von 1962, bei der die Welt am Rand des Nuklearkriegs gestanden hatte, hatte die Situation noch klarer gemacht: Der Preis des Friedens war die Unantastbarkeit der beiderseitigen Machtsphären.

Entspannung statt Konfrontation stand jetzt auf der Tagesordnung der Weltmächte. Die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Anspruch auf Wiedervereinigung und auf Alleinvertretung für alle Deutschen, bisher treuester Bundesgenosse der USA gegenüber der Sowjetunion, stand jetzt zunehmend als Hindernis für den Ausgleich der großen Mächte da.

Die Hallstein-Doktrin, mit der die Bundesrepublik jedes Land, das Diplomaten nach Ost-Berlin schickte, mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen bestrafte, erwies sich jetzt als Sackgasse: Namentlich in der arabischen Welt, die sich von der Unterstützung durch die Sowjetunion zeitweise mehr versprach als von Geschenken aus Bonn, wuchs die Neigung, die DDR anzuerkennen und den Bruch mit der Bundesrepublik Deutschland in Kauf zu nehmen.

Hagen Schulze: Kleine deutsche Geschichte, München (Beck) 1996, S. 250.

B 16 Kinderworte von 1996

Schulanfänger des Jahres 1996 erklären, wozu man die Mauer brauchte. (Als sie zur Welt kamen, war die Mauer gerade gefallen, und die DDR existierte nur noch wenige Monate. Sie sind der letzte Jahrgang, in deren Geburtsurkunde als Geburtsland "Deutsche Demokratische Republik" steht.)

"Meine Mama hat mir erzählt, dass früher hier so 'ne Mauer war, da konnte keiner wegfahren. Da mussten die Leute immer zu Hause bleiben. Da war nämlich Krieg."

"Da durfte man auch gar nicht rüber. Wenn da ein Kind rübergeklettert wäre, wäre es in ein Kinderheim gekommen."

"Oder ins Gefängnis. Da wär' die Polizei gekommen."

"Die Leute durften sich nicht besuchen, und ich konnte nicht zu meiner Oma Helga. Die Leute durften nur winken."

"Ich glaub, die konnten nicht mal winken."

"Auf der einen Seite von der Mauer hatten sie schöne Sachen und auf der anderen nicht so schöne."

"Irgendwann hat dann einer gesagt, jetzt muss eigentlich die Mauer mal weg sein, weil wir wollen ja auch mal wegfahren, und dann haben sie die Mauer abgerissen."

Die Zeit vom 4. Oktober 1996, S. 64.


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